Movimentos-Festwochen im VW-Kraftwerk Wolfsburg

© Thomas Ammerpohl Die 14 Tänzer und Akrobaten und ihr Choreograph Jacques Heim sorgten mit „L´Espace du Temps“ – eine Europapremiere – an vier Abenden jeweils vor knapp 1.000 Zuschauern für stehende Ovationen.

Virtuosität und technische Perfektion sind kein Widerspruch. Ganz im Gegenteil: Eine gelungene Symbiose von Akribie und Artistik erlebten auch in diesem Jahr die insgesamt mehr als 30.000 Besucher der Movimentos Festwochen in Wolfsburg.  

Zeitgenössischer Tanz, Klassik und Jazz auf Weltklasse-Niveau werden seit 2003 nicht auf einer üblichen Theaterbühne, sondern vor ungewohnter Kulisse geboten: in einem industriegeschichtlichen Denkmal, dem am 16. August 1939 in Betrieb genommenen, inzwischen teilstillgelegten und modernisierten Heizkraftwerk, mit seinen vier Schornsteinen das von weitem sichtbare Wahrzeichen von Wolfsburg. 

Diese gigantischen Dimensionen, gepaart mit kulturellen und kulinarische Genüssen inmitten in buntes Licht getauchter Turbinen – das alles übt einen ganz eigenen  Reiz aus, der Künstler wie Besucher aus aller Welt inzwischen seit mehr als elf Jahren anzulocken und zu begeistern vermag.  Sie kommen nicht zuletzt der versprochenen besonderen magischen Momente wegen, welche die hochkarätige Besetzung des Programms, in dem sich in diesem Jahr alles um das Leitthema „Glück“ drehte, ihnen verheißt. 

Einer der besonders sehens – und erlebenswerten Höhepunkte in diesem Jahr: Der Auftritt der Tanzcompany „Diavolo“  aus Los Angeles. Die 14 Tänzer und Akrobaten und ihr Choreograph Jacques Heim sorgten mit  „L´Espace du Temps“  – eine Europapremiere – an vier Abenden jeweils vor knapp 1.000 Zuschauern für stehende Ovationen.

„Die Anforderungen seitens der eingeladenen Ensembles und Solo-Künstler sind ganz unterschiedlich, und so lernen wir jedes Jahr etwas dazu“, sagt Christian Kiel, der als verantwortlicher Bühnenmeister allein im Bereich der Veranstaltungstechnik mit einem Team von mehr als 60 externen Dienstleistern, darunter vor Ort allein etwa 55 Audio-, Licht-,Rigging- und Netzwerkleute sowie rund ein Dutzend Bühnentechniker, gerade mal sechs Wochen lang Zeit hat für diese gewaltige logistische Herausforderung. movimentos tribuene

Es geht um nicht weniger, als in die große aus 4750 Tonnen Stahl, 96.000 Tonnen Zement und 2,66 Millionen Mauersteinen bestehende „Hülle“ aufs Neue diese besondere Spielstätte mit ihrem „fliegendem Aufbau“, all die aufwändigen Einbauten inklusive Tribüne mit rund 1.000 Sitzplätzen nebst Foyer, Catering, Büro- sowie Sanitär- und Umkleidebereichen, genehmigungs- und betriebssicher und termingerecht „einzupassen“.

„Aufgrund der räumlichen Vorgaben, der Raumaufteilung und der Nutzung von Gebäudeteilen für die Energieversorgung gibt es naturgemäß Beschränkungen, wir müssen also immer Kompromisse machen“, erklärt Kiel: „Die im Vergleich zu einem normalen Theater längeren Wege nehmen die Künstler gerne in Kauf, denn das Ambiente im KraftWerk ist einzigartig“, unterstreicht der technische Projektleiter. 

Zu Beginn eines jeden Festivaljahres wird für den Aufbau im KraftWerk eine Generallinie festgelegt, Standards werden definiert und später eingehalten, Absprachen getroffen, Checklisten kontrolliert und abgehakt. Damit beispielsweise sichergestellt wird, das Fluchtwege freigehalten, Alarmierung, Notbeschilderung und -beleuchtung,  ausreichende Stromversorgung – es gibt etwa getrennte Versorgungsnetze für Ton und Licht, weiter sorgt ein zusätzliches gesichertes Netz mit jeweils eigenen Verteilern dafür, dass selbst bei einem  „Blackout“ noch elektrische Energie fließt – reibungslos und ausfallsicher funktionieren.. 

Jahr für Jahr werden für die verschiedenen Aufgabenbereiche und Gewerke, eine bemerkenswerte Vielzahl, insgesamt weit mehr als 100 Aufträge an hoch spezialisierte Firmen- und Dienstleister in ganz Deutschland vergeben. „Wir arbeiten nur mit bekannten Branchengrößen zusammen, bei denen wir sicher sein können, dass die hohen und besonderen Anforderungen schon allein vom erforderlichen Material her garantiert und bewerkstelligt werden können“, beschreibt Christian Kiel, wie hoch die Messlatte für alle Beteiligten bei dem Mammut- Projekt „Movimentos“ liegt. 

 Umfangreichste Raumnutzungsänderung der Republik

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Immerhin handelt es sich um nicht weniger als um die wohl umfangreichste Raumnutzungsänderung in der Republik, für die innerhalb etwa eines halben Jahres an Vorbereitungszeit bis hin zur Abnahme mehrere Behörden wie Baubehörde, Gewerbeaufsichtsamt, der TÜV, die Stadt Wolfsburg, die Kraftwerks GmbH und weitere Ämter letztendlich nach Prüfung, ob alle Vorgaben eingehalten werden, grünes Licht geben müssen.

Damit die Tanzkompanien, Orchester und Solisten sich hier wohl fühlen und konzentriert auf ihre Bühnenauftritte vorbereiten können, ist ein enger, abgestimmter Zeitplan einzuhalten, der dennoch ausreichend Reserven für flexibles Reagieren bei Unwägbarkeiten oder Verzögerungen bieten muss.

Die Tänzer haben nach ihrer Ankunft genügend Zeit, sich bei den Proben vor Ort auf die Gegebenheiten einzustellen, sich mit ihnen näher vertraut zu machen. „Bei den großen Tanzperformances ist in der Regel schon ein Vorlauf von zwei bis drei Tagen nötig, für die technische Vorbereitung  mit dem Einrichten des Lichtes und dem Einstellen des Tons, bei den Konzerten geht das etwas schneller“, verrät Christian Kiel und ergänzt: „Damit wirklich rechtzeitig für den nächsten Auftritt umgebaut werden kann, ist das erforderliche Personal Tag und Nacht im Schichtbetrieb im Einsatz“.

Sicherheit, Redundanz und Flexibilität – das sind die wesentlichen Erfolgskriterien für ein technisch erfolgreiches Festival. „Dafür müssen wir auf jedwede mögliche Eventualität vorbereitet sein“, beschreiben Kiel und sein Kollege Marcus Coch die hohe Verantwortung, die auf ihren Schultern liegt.

moviementos dimensionenAuch auf diesem Bild lassen sich die Dimensionen des Kraftwerks bestenfalls erahnen.

Traversenkonstruktion statt Schnürboden

„Eine Besonderheit ist beispielsweise, dass wir hier anders als in einem normalen Theater keinen Bühnenturm haben und auch keinen Schnürboden. Gelöst haben wir das mit einer besonderen Traversenkonstruktion“, erläutert er.

Das Bühnenhaus im Kraftwerk ist 12,50, partiell 15.50 Meter hoch, die lichte nutzbare Höhe beträgt unter den Zügen zwischen 11,50 und 14,50 Meter. Standardmäßig ist das Bühnenhaus mit 18 Zügen von 18 Meter Breite ausgestattet. 

Um auf alle möglichen Anforderungen vorbereitet zu sein, kommen Movecat-Systeme zum Einsatz, die den hohen Standards gemäß BGB C1 und SIL 3 genügen. „Wir können dank einsetzbarer 54 Motorzüge mit 3D-Motion-Steuerung eine Hublast von zusammen 31.000 Kilo gewährleisten“, erklärt Marcus Coch. Außerdem stünden beispielsweise 24 Motorzüge mit einer Gesamthublast von 24.000 Kilo sowie drei Spezialwinden mit 3D-Motion-Steuerung mit einer Hublast von zusammen 750 Kilo zur Verfügung.

Alle Züge im System lassen sich mit variablen Laufgeschwindigkeiten individuell konfigurieren und positionieren. „Damit sind spannende und sichere Setups und Verwandlungen möglich“, so der Fachmann. Für szenische Fahrten nutze man 54 spezielle Entertainment-Winden, welche über zwei Expert-TII Konsolen via iMotion-Netzwerk gesteuert und kontrolliert werden.

42 Kilometer Lichtkabel

 moviementos lichtInsgesamt stehen in der Autostadt mehr als 1.200 Scheinwerfer zur Verfügung.

Lichttechnisch richtig in Szene gesetzt werden die Tänzer und Artisten von „Diavolo“ an diesem Abend mit insgesamt 775 Architekturlicht-Scheinwerfern, weitere  439 Scheinwerfer im Pool kommen wechselnd je nach Anforderung der jeweiligen Compagnie bei Bedarf dazu. „Allein für das Licht mussten wir Kabel auf einer Länge von zirka 42 Kilometern verlegen“,  rechnet Coch nach. 

Nicht weniger anspruchsvoll waren die Verantwortlichen bei der Tontechnik: Auch hier geht der Veranstalter keinerlei  Kompromisse ein hinsichtlich Flexibilität sowie schneller und einfacher Bedienbarkeit. Deshalb fiel die Entscheidung zugunsten einer Soundcraft Vi6 aus, über die sich neben der dezentralen Beschallung auch im Fall der Fälle eine Alarmierung steuern lässt. 

 Über vorkonfigurierte Setups beziehungsweise Templates für bestimmte Situationen, die sich während einer Show leicht und unkompliziert anpassen lassen, bietet das ausgewählte System den Pult-Operatoren der einzelnen Compagnien oder Ensembles den Komfort eines schnellen und einfachen Zugriffs“. Das gesamte System wird im FOH überwacht und gesteuert“, erläutert Marcus Coch. die unterbrechungsfreie Stromversorgung wird gewährleistet durch Soundcraft Vi6 als Hauptkonsole sowie zwei Soundcraft Vi1 als Backup und Audio Matrix. Die einzelnen Bedienkonsolen des Pults sind dabei gegeneinander abgesichert. Fallen bestimmte Bereiche aus, können Arbeitsprozesse ersatzweise von anderen Komponenten übernommen werden.

moviementos soundcraft 2DIE SOUNDCRAFT VI6 STEUERT IM ERNSTFALL AUCH DIE SPRACHALARMIERUNG.

Dass die „Movimentos“ Festwochen jedes Jahr eine gelungene Symbiose von Industriegeschichte, Technik und zeitgenössischer Kunst zu bieten haben, das führten  die Mitglieder des Tanzensembles „Diavolo“ aus Los Angeles mit ihrem Choreographen, dem Franzosen Jacques Heim, an vier Abenden dem Publikum eindrucksvoll vor Augen. 

Zentrales Bühnenobjekt in „Fluid Infinities“, dem Schlußteil der Trilogie,  ist eine rund 600 Kilo schwere Kuppel, die Raumschiff, löchriges Ufo, vielleicht eine riesige Bienenwabe oder aber je nach Lesart auch eine Mondlandschaft im Weltraum oder einen geheimnisvoller Ort im Unterbewusstsein darstellen kann. Entworfen wurde sie von dem Architekten, Adam Davis, und gebaut von einer Firma , die ansonsten besondere Edel-Automobile und Flugzeuge restauriert. Die Akteure werden  durch eine rund vier Meter lange Plexiglas-Röhre in das unbekannte Innere der Kuppel gezogen,  tauchen später in goldfarbenen Anzügen wieder auf. Sie schauen in eine noch unbekannte Realität.

Text und Fotos (außer Titelbild): Thomas Korn